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Unsere Volksvertreter–ein offener Brief.

  • 26. April 2012

Sehr geehrter Herr Dr. Bartenstein,
liebe Abgeordnete und höhere Funktionäre der ÖVP,

ich habe mich lange gefragt, wie ich meinem Unmut Ausdruck verleihen sollte. Genauer gesagt, ich habe mich lange gefragt, wie ich einen Brief so anfangen soll, der nicht gleich ungelesen in einem Abfallkorb landen wird. Ein offener Brief hat für mich zwei Vorteile: Erstens, er landet nicht im Papierkorb. Zweitens, es besteht die Hoffnung, dass dieser Brief von anderen Leuten auch gelesen und verteilt wird.

Ich möchte zunächst einmal die Möglichkeit wahrnehmen und etwas von mir erzählen. Ich bin aktuell Student an einer Fachhochschule und stehe kurz vor meinem Masterabschluss. Ich verfolge die österreichische Innenpolitik seit ca. 14 Jahren, wobei mein Interesse und mein Verständnis für die Politik sich erst aufbauen mussten. Ja, ich bin interessiert daran, was bei den Entscheidungsträgern dieses Landes so vorgeht – ich wurde als Mensch erzogen, der Dinge hinterfragt und nicht einfach ja und Amen sagt. Vor der Nationalratswahl erschien mir eine Stimme für die ÖVP für vernünftig – da ich zu diesem Zeitpunkt aber noch kein Wahlrecht hatte, konnte ich nur vor dem Fernseher die Endergebnisse betrachten.

Bevor ich an dieser Stelle weiterschreibe, möchte ich eines klarstellen: Ich habe, seitdem ich wahlberechtigt bin, noch nie bei einer Wahl auf Landesebene oder höher einen gültigen Stimmzettel abgegeben. Der Grund dürfte offensichtlich sein: ich fühle mich durch die sogenannten Volksvertreter paradoxerweise nicht vertreten. Warum ich das hier schreibe? Wenn ich meine Meinung irgendwo kund tue, dann werde ich von manchen Individuen gleich in ein gewisses Lager geschoben. Meist in das Lager, das diametral zu ihrer Position steht. Das Lagerdenken habe ich aber mit der Jungschar bereits vor Jahren aufgegeben. Auf diese Weise möchte ich bewirken, dass Sie mich als Mensch wahrnehmen und nicht als politischen Gegner.

Noch etwas: Ich bin ein Digital Native, wie man es wohl an treffendsten ausdrücken kann. Ich stehe jeden Tag auf und schaue unmittelbar danach auf Facebook, was sich so tut. Meine Nachrichten beziehe ich von Twitter, wenn ich Fotos suche und diese teilen möchte, suche ich zuerst auf creativecommons.org, Kartenmaterial beziehe ich von openstreetmap.org und stelle nach Möglichkeit meine Werke auch der Netzgemeinde wiederum zur Verfügung. Dokumente werden auf dem Tablet gelesen, Formulare auf dem PC ausgefüllt und dann mit der Bürgerkarte signiert. Zum Lernen drucke ich die Unterlagen zähneknirschend aus – mit diesem Medium kann ich nachwievor am besten lernen. Am Anfang des Briefes habe ich mir überlegt, Sie mit “du” anzureden, wie es im Internet in der Regel der Fall ist – dann hätten sie den Brief aber vermutlich bestenfalls zum anderen Altpaper gelegt.

Um mir die Wohnung mit meiner Freundin leisten zu können, arbeiten wir beide – ich studiumsbedingt 20 Stunden die Woche, sie Vollzeit. Wir schaffen es gerade so, Monat für Monat. Aktuell sind wir noch darauf angewiesen, ein Auto zu unterhalten, weil die Öffiverbindungen schlichtweg nicht tragbar sind. Frisch nach dem Studium macht man noch keine großen Sprünge, aber es wird langsam. Und wir sind mit der Situation den Umständen entsprechend zufrieden.

Hier denke ich mir zum ersten Mal, “es hackt”. Betrachtet man die Nullerjahre, war die politische Situation alles – nur nicht geordnet. Als Bürger hatte man den Eindruck, dass “dort oben” (oder als Vorarlberger “da drüben im Wasserkopf”) alles drunter und drüber geht. In der Koalition gab es den sprichwörtlich lachenden Dritten und den grinsenden Zweiten, der sich im Monatsrhythmus neu formieren musste. An eine Kontinuität war nicht zu denken. Nach der Regierung Schüssel II (oder war es III? Irgendwo 2004 war für mich kein Überblick mehr da) 2006 war urplötzlich alles anders. Kennen Sie das Buch 1984? Wenn nicht, würde ich Ihnen empfehlen, es zu lesen. Gerade gesellschaftspolitisch lassen sich erschreckende Parallelen zu der heutigen Gesellschaft ziehen. Kurz zur Information: Im Buch gibt es weltweit drei Großmächte, zwei davon befinden sich immer im Krieg. Der Hauptgrund für diesem Krieg ist eine künstliche Rohstoffenknappheit, damit die Bevölkerung gefügig gemacht wird. Landgewinne durch irgendwelche Siege gibt es de facto nicht. Wenn jetzt allerdings auf einmal der anderen Großmacht der Krieg erklärt wird, dann wird vom Ministerium für Wahrheit jeder Beweis, dass der Krieg irgendwann einmal gegen jemand anders geführt wurde, vernichtet. Zeitungen werden korrigiert und auf einmal steht ein Gefangener des “aktuellen” Gegners am Pranger. Die Erinnerung der Menschen, so das Buch, verblasst automatisch. und somit gilt dort: “Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft”. Mit der neuen Regierung Gusenbauer I wurde mir der Inhalt des Buches schlagartig in Erinnerung gerufen. Urplötzlich war die Koalition auf einmal so verschweißt miteinander, als ob es nie etwas anderes gegeben hätte. An Schwarz-Blau wurde urplötzlich nicht mehr gedacht.
Selbstverständlich ist es nur menschlich, dass man an die eigenen “Fehler” nicht mehr erinnern will – wer will schon eine Partei wählen, die Fehler zugibt? Und doch ist mir noch etwas länger verschlossen geblieben, was das eigentliche Problem von Ihnen als Volksvertretern ist.

Als Volksvertreter sollten Sie eigentlich dazu berufen sein, das Volk zu vertreten. ich weiß, der Satz erscheint Ihnen völlig überflüssig. Und dennoch will ich ihn extra betonen – weil ich Ihnen vorwerfe, dass Sie schon länger nicht mehr das Volk vertreten. Der einfache Mann kennt Sie aus dem Fernsehen, wenn überhaupt, wenn man verstärkt Politiker auf den Straßen sieht, dann kommt die nächste Wahl so sicher wie das Amen im Gebet. Das sind aber keine Momentaufnahmen. Jedes Mal, wenn ich sehe, dass ein Politiker in der ZiB 2 interviewt wird, sehe ich mir die Parteizugehörigkeit und das Thema an – und nutze die Zeit für wichtigere Dinge. Sogar die Werbepause auf den deutschen Privatsendern hat mehr Inhalt als so ein Interview.
Was ich aber in diesem Zusammenhang als noch weit schlimmer empfinde ist das Verhalten in einer Nationalrats- oder Bundesratssitzung.
Eine Parlamentssitzung per Livestream mitzuverfolgen ist eine tolle Sache. Dort bekommt man einige sehr sehr aufschlussreiche Dinge mit, die man sogar als Nachrichtensprecher nicht mitbekommt.
Ich beschreibe Ihnen ganz kurz einmal, wie sich mir eine Nationalratssitzung präsentiert: Auf der einen Seite die Umfaller, auf der anderen Seite die Bremser. Dazwischen drinnen ein paar Schreihälse, garniert mit einigen wenigen farblosen, die hin und wieder auch einmal zu Wort kommen dürfen. Ein illustrer Haufen, Sakkos und Krawatten, wo man nur hinblickt. Man möchte meinen, dass dort die geballte Kompetenz des österreichischen Volkes sitzt. Wenn es dort sitzt. Zu Beginn der Fernsehübertragung dürfen die Schwergewichtler ran, die sich dann verabschieden. Früher hat man auf dem Livestream des Parlaments ja nicht mehr gesehen, wie sich die Reihen leeren. Mittlerweile ist das aber schön sichtbar. Betrachtet man die Rednerliste, so sieht man eigentlich nur eines: pro Fraktion dürfen mehrere reden – obwohl es nur eine Meinung gibt. Für was sitzen dann die restlichen Abgeordneten dort im Nationalrat und beziehen ihr Abgeordnetengehalt? Ich verstehe es nicht, erklären Sie es mir!
Ja, ich habe von der Klubdisziplin gehört, aber das erklärt nicht, warum das österreichische Parlament 183 Mitglieder hat. Stellen Sie sich kurz mein (zugegeben naives – aber was bleibt mir anderes übrig?) Gedankenexperiment vor: Die Regierungsbank bleibt. Von jeder Fraktion sitzt ein Abgeordneter an einem runden Tisch und bringt kurz die Ansicht der eigenen Partei vor. Anschließend wird abgestimmt. Während der Rede des Parteivertreters läuft ein sogenanntes Bullshit-Meter mit, das den Inhalt der Meldung auf Wert und Notwendigkeit prüft. Das Bullshit-Meter wirft einen Wert zwischen 0 und 1 aus und dieser Wert stellt den Multiplikator für die Parteienförderung und das eigene Gehalt für den nächsten Monat dar. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und die Parteienvertreter der aktuellen Regierung zusätzlich einsparen, denn die wären sowieso immer auf Regierungslinie. Jeder Vertreter hat eine mit dem Prozentsatz der letzten Nationalratswahl gewichtete Stimme. Ich möchte einmal etwas provokativ die Vorteile dieses Systems auf den Punkt bringen:

  • Wir sparen uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt 178-180 Abgeordnetengehälter
  • Das Parlament müsste nur zu einem Bruchteil der Kosten saniert werden
  • Jeder würde versuchen a) das Bullshit-Meter zu manipulieren oder b) tatsächliche Inhalte zu liefern. So oder so, es würde bedeuten, dass das “Parlament” arbeitet.
  • Der ORF könnte die wertvolle Sendezeit anders verwenden
  • Der Inhalt bliebe im Vergleich zum jetzigen System der gleiche.
  • 178-180 Personen müssten sich nicht unauffällig vertschüssen, sondern könnten hochoffiziell irgendwo anders sein.

Ich sehe Sie gerade vor meinem geistigen Auge, wie Sie den Vorschlag lesen und mit einem Lachen für lächerlich befinden. Allerdings kommt jetzt der Punkt, warum der Brief ausgerechnet an Sie gerichtet ist.
Die Sondersitzung vom 10.4.2012 hat mich laut auflachen lassen (nein, es war nicht nur “lol”, sondern tatsächlich ein Lachen, das für verwunderte Blick im Büro gesorgt hat). Dort reden Sie von “Respekt” und reden von “neuen Bewegungen”, wie etwa die “Piratenpartei”. Kurz vorneweg: Würden die Piraten tatsächlich bei der nächsten Wahl antreten, werde ich vermutlich wieder weiß wählen. Nur wie sie vom Sprecher der Piraten geredet haben, hat mich aufgeregt. “Der Vertreter wusste nicht einmal, dass er der Sprecher dieser Partei ist und auch sonst hat er nicht viel gesprochen. Also das haben wir wirklich nicht notwendig in unserem Land. Dafür sind wir uns zu gut und dafür sollten wir uns einander respektieren.”
Würde bereits jetzt ein Bullshit-Meter im Parlament stehen, so würde es vermutlich kaum ausschlagen. Kein einziger von Ihnen vermittelt tatsächlich Inhalte. Weder in einem ORF-Interview noch in einer Nationalratssitzung bin ich nach einer Wortmeldung auch nur ein Stück schlauer. Eine zweiminütige Zusammenfassung in der Zib24 reicht in der Regel völlig aus, um den Inhalt einer gesamten Sitzung zu transportieren – wenn ein ZiB2-Interview zusammengefasst wird, reichen sogar wenige Sekunden, um die Kernbotschaft zu verdeutlichen.
Wieso, frage ich Sie, wieso sehen Sie nicht selber, dass die Bevölkerung diese Retortenpolitiker schon längst durchschaut hat? Ich ziehe den Hut vor Ihnen, wenn Sie wirklich nur einmal unvorbereitet in eine Nationalratssitzung gehen oder wenn sie in einem Interview das von sich geben, was Sie wirklich denken. Der Mensch an sich hat ein sehr sehr feines Gespür für Bullshit. In unserem Land wird aus zwei Gründen so gewählt, wie gewählt wird. Entweder, weil der Papa auch so gewählt hat, oder aus Protest. Ich behaupte, dass ein sehr sehr kleiner Bruchteil der Menschen wirklich der Inhalte wählen.
Sie sind KEINE Volksvertreter mehr, machen Sie eine Kehrtwende! Selbst “volksnahe” Beispiele nach dem Prinzip “gerade gestern war ich Milch einkaufen” wirken gekünstelt, Ihre Kaste hat nichts mit dem Querschnitt durch das Volk zu tun.
Der Sprecher der Piratenpartei ist Ihnen da um einige Nasenlängen voraus. Zum einen hat er keinen professionellen Coach, das macht ihn menschlich. Das macht ihn ehrlich. Und zum anderen hat er etwas im Rücken, das Sie vermutlich noch nicht begreifen. Schwarmintelligenz ist die Intelligenz der vielen, die zumindest in der Theorie die Dummheit einiger weniger ausmerzen soll. Im Grunde ist es nichts anderes wie eine echte und konsequente Basisdemokratie – eine Form der Demokratie, die es so in der ÖVP nie gab. Zu oft musste man in den Medien lesen, wie einzelne ÖVP-Funktionäre einfach übergangen wurden. Allein wenn man an Frau Rauch-Kallat oder an Dr, Maier denkt, kann man nur den Kopf schütteln. Einzelne Individualstimmen werden unterdrückt – eigentlich sollte das in einer Demokratie nicht passieren dürfen. Denken Sie darüber nach, bevor Sie noch einmal solche unqualifizierten Äußerungen von sich geben, ich bitte Sie darum.

Mir ist sehr wohl bewusst, dass Sie nicht für alles in diesem Brief die Verantwortung tragen. Ihre Wortmeldung am 10.4. war aber der berühmte Tropfen, der mich dazu veranlasst hat, diesen Text zu verfassen. Und auch Ihre Partei ist nicht allein verantwortlich für den Weg, den Österreich in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Nur etwas kreide ich direkt ihrer Partei an und das ist Machtgier. Schüssel hat es vorgemacht und auch Molterer hat sich meiner Meinung nach bei seinen berühmten letzten Worten etwas anderes im Kopf ausgemalt. Ich bitte Sie daher um Eines: Eine klare Position. Die vermisse ich bei Ihnen am allermeisten.

Es muss doch möglich sein, dass sich die österreichischen Politiker wieder dem Volk annähern. Auch ein Politiker darf Fehler machen. In meiner Erziehung wurde mir aber eines gesagt: “Wenn ich Blödsinn mache, dann ist das meine Sache. Aber dann muss ich wenigstens dazu stehen.” Gerade der Untersuchungsausschuss zeigt mir, dass eine Rücktrittskultur in Österreich fehlt. In Deutschland tritt ein Bundespräsident wegen weit weniger zurück – eine Ohrfeige für den Bürger! Ich erwarte mir keine Rücktritt, aber ich erwarte mir Ehrlichkeit. Und das erwarte ich mir von jedem, der eine politische Tätigkeit und somit eine Verantwortung dem Bürger gegenüber inne hat.

Als Österreicher ohne irgendeinen Migrationshintergrund war es für mich als Jugendlicher eine Selbstverständlichkeit, hier zu leben. Mittlerweile ist das anders. Mittlerweile weiß ich, was wir an Österreich haben und was wir nicht verlieren dürfen und dafür bin ich bereit, zu kämpfen – mit Worten, versteht sich. Ich betrachte meine Freiheit als Geschenk, für das unsere Vorfahren ihr Leben lassen mussten und ich will nicht, dass dieses Privileg vor die Hunde geht. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Grenzen und Hürden gefallen sind und dafür bin ich euch dankbar. Dennoch kommt mir vor, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahren immer mehr und mehr zurückbildet. Amtsgeheimnis, Unerreichbarkeit der Politiker, ein Graben zwischen Volk und Entscheidungsträger – eine Kluft, die den falschen Kräften Auftrieb verleiht. Wie Sie sich sicher vorstellen können, bin ich auch gegen die Vorratsdatenspeicherung und gegen ACTA auf die Straße gegangen. Sollten Sie wieder eine Verbindung zum Volk herstellen können, werden Sie garantiert sehr schnell feststellen, dass das die falschen Mittel sind, um Verbrechen einzudämmen.
Es gibt zuviele Dinge, die sich in den letzten Jahren falsch entwickelt haben.

Und um alle Politiker anzusprechen: Ich vermisse seit langem in so gut wie allen Entscheidungen die Menschlichkeit – und das schmerzt.

Mit freundlichen Grüßen,

ein besorgter Bürger.