Wer kennt das nicht? Wer kennt nicht die Frage "Wo warst du, während/beim…" gefolgt von einem für die Menschheit – oder zumindest für einen großen Teil der Menschheit – bedeutenden Moment.
"Wo warst du 1969, während der ersten Mondlandung?" (gut, zugegeben, für das bin ich zu jung)
"Wo warst du, als 1989 die Mauer gefallen ist?"
"Wo warst du, als 2001 zwei Flugzeuge das World Trade Center zum Einsturz gebracht hat?" (die kann ich sogar ziemlich genau beantworten)
Heutzutage stellt man sich die Fragen nicht, man dokumentiert mit. Man dokumentiert mit dem Smartphone mit, was wichtig erscheint – und scheint dabei erschreckenderweise gewisse fundamentale Spielregeln zu vergessen.
It was the best of times,
it was the worst of times,
it was the age of wisdom,
it was the age of foolishness,
it was the epoch of belief,
it was the epoch of incredulity […]
A Tale of Two Cities (1859), Charles Dickens
Was hat sich verändert? Es hat sich sehr, sehr viel verändert. 2005. Ich weiß noch sehr gut, dass mein erstes Kamerahandy ein schlechter Witz war. Die Bilder waren winzig, über- oder unterbelichtet, unscharf und somit einfach unbrauchbar. Wollte man zu damaliger Zeit etwas dokumentieren, musste man dediziert eine Digitalkamera oder einen analogen Fotoapparat mitnehmen.
Meiner Meinung nach ist dieses Foto bezeichnend für den Wandel, der sich vollzogen hat.
Das obere Bild zeigt die wartende Menge in Rom während der Papstwahl 2005. Das untere hingegen zeigt die wartende Menschenmenge im Jahre 2013, nachdem Benedikt XVI. zurückgetreten ist.
Die Unterschiede müssen wohl nicht weiter erklärt werden. Unten wollte jeder _sein_ Bild vom neuen Papst haben. Jeder wollte sein Foto vom weißen Rauch haben, jeder wollte sein Foto von seinem Platz in der Menge haben.
Wir leben in goldenen Zeiten. Wir haben die Technologie in der Hand, um in Sekundenschnelle Beweise anfertigen zu können – Beweise, Dokumente, Belege. Wir können Ereignisse in einer noch nie dagewesenen Qualität dokumentieren und der Nachwelt ein hochwertiges Dokument hinterlassen.
Solche Dinge sind auch passiert. Es werden täglich Dinge dokumentiert, die tatsächlich auch in den Nachrichten landen. Sei es Polizeigewalt, ein Verkehrsvergehen, ein Großereignis oder ein Naturschauspiel.
2009 etwa hat eine Nachricht auf Twitter konventionelle Nachricht überholt: Der Flugzeugabsturz in den Hudson River wurde zuerst auf Twitter publik – noch bevor ein Nachrichtensender reagieren konnte.
Warum aber kommt jemand auf die Idee, ein Konzert live mitzufilmen – sollte er oder sie nicht lieber einfach mitmachen?
Warum kommt jemand auf die Idee, das bestellte Essen solange für ein Foto her zu richten, bis es kalt ist?
Warum kommt jemand auf die Idee, Selfies in lebensgefährlichen Situationen zu machen?
Was hat sich verändert? Nun… Social networks haben sich breit gemacht.
Man muss kein großer Literat sein, 140 Zeichen sind schnell gefüllt. Man muss kein großer Fotograf sein, Instagram peppt jeden Dreck mit Filtern bis zur Unkenntlichkeit auf. Man muss nicht einmal groß Content erzeugen – Links Retweets machen weit mehr als 95% von beispielsweise Twitter aus.
Wie also – wie? Wie hebt man sich von den Massen ab? Wie schafft man es, dass die Menschen einen mögen? Wie schafft man es, likes zu bekommen? Likes, die erwiesenermaßen direkt das Belohnungszentrum des Gehirns stimulieren?
Man sucht den immer größeren Kick. Planking, Owling, (wie heißt das nochmal mit den Affen?), Selfies in selbstmörderischen Umgebungen. Selfies mit wilden Tieren. Selfies mit sterbenden Menschen oder Tieren.
Es sind die Trends, die ich nicht verstehe. Nie im Leben hätte ich mir gedacht, dass ich mich tatsächlich frage, warum Menschen wirklich schwer verletzte, wehrlose Menschen fotografieren. Nein, hier geht es nicht um Dokumentation. Die Rettungskräfte waren bereits vor Ort am Helfen! Nie im Leben würde ich mir ausdenken, zuerst hunderten Menschen ein Selfie mit einem Delfin zu gestatten, bevor ich ihn ins Meer zurückwerfen würde. Übrigens, nach dieser Aktion ist der Delfin gestorben. Ich für meinen Teil hoffe, dass diese Menschen sich ganz ganz mies fühlen.
Beruhigend ist, dass die Gesetzgebung reagiert und Gaffern einen Riegel vorschieben will. Und was ist mit den Verrückten – etwa denen mit den lebensgefährlichen Selfie-Positionen oder denen, die unbedingt ein Selfie mit einem Tier machen wollen? Die natürliche Auslese ist keine bloße Theorie.
Wir haben die Technik. Wir haben die Möglichkeiten. Wir haben einen verdammten Supercomputer in der Tasche. Ein Mensch, der seit 10 Jahren im Koma liegen würde, würde sich an den Kopf greifen. Wir fotografieren lieber uns selber als die Menschen, mit denen wir unterwegs sind. Wir filmen lieber das Konzert, anstatt es zu genießen.
Ich gebe zu: In diesem Exabyte an Daten gibt es durchaus historisch relevante Dokumente. Nur liegen diese – im Gegensatz zu der Zeit von vor 10 Jahren – unter einem Berg voll Müll. Produziert von Pseudoyoutubern, Foodbloggern, Instagramkünstlern, selbsternannten Modeexperten. Wir würden wahrscheinlich erst fünf Jahre später weltweit erfahren, dass tatsächlich Aliens gelandet sind. Historische Ereignisse gehen im Müll unter. Im Müll, der die Menschheit tatsächlich noch behindert.
Verhältnismäßigkeit. Verhältnismäßigkeit ist das Zauberwort. Macht euren Content. Macht euren Content, sofern er hochwertig ist. Macht historischen Content. Füttert eure Follower nicht mit Dreck. Behindert nicht die Menschheit in ihrer Entwicklung. Erkennt die historischen Ereignisse. Dokumentiert die historischen Ereignisse. Erkennt, wer eure Freunde sind und wer die Öffentlichkeit darstellt. Entblößt euch nicht. Verkauft euch nicht. Verkauft euch nicht für Likes. Likes stehen ganz schlecht im Kurs.
Letzter Senf